Lebenshilfe Braunschweig
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03.12.2021

Kleinwüchsig oder die Einsamkeit unterm Stehtisch

Melanie Okon ist 22 und klein. Sehr klein. 1,26 m, um genau zu sein. „Kleinwüchsig“ wird sie als eine von rund 100.000 Betroffenen in Deutschland bezeichnet – und lebt dort wie in einer ganz eigenen Welt.

Wie eine andere Welt

„Kleiner als ein Pony“, beschreibt Melanie Okon sich selbst. Der Vergleich hat seinen Grund: Laufen und springen gehören zum Alltag. „Einkaufszentren sind für uns wie Kletterhallen“, beschreibt die junge Frau einen kleinen Teil der Herausforderungen. Die Produkte seien auch manchmal zu hoch, mehr aber noch die Regale. Kühltruhen müsse sie regelrecht erklimmen. Flaschenrückgabe am Automaten? Ein Alptraum und ohne Hilfe nicht zu schaffen.

Hindernisse im Alltag

In alten Straßenbahnen kommt sie selbst auf den Zehenspitzen stehend nicht an die Knöpfe. Stehtische sind ihr ein Gräuel, weil unerreichbar und jede Kommunikation unmöglich machend. Da stünde man dann einfach nur einsam und ratlos da und, ob ihrer Körpergröße, unter jenem eigentlich der Geselligkeit dienenden Möbelstück. Kino oder Theater gleichen, was das Erleben des Films oder der Vorstellung betrifft, einem Glücksspiel: „Wer sitzt wohl heute vor mir und wie viel Verständnis bringt er oder sie für mich auf, wenn ich nichts sehen kann?“ Bei Konzerten oder wenn es mal irgendwo schnell gehen müsse, werde keine Rücksicht genommen. Da komme sie kaum ohne Blessuren davon.

Verletzende Kommentare

Viel mehr als die Hindernisse im Alltag treffen sie aber die manchmal unterschwelligen, oft aber auch ganz offen ausgesprochenen Hinweise auf ihre Körpergröße: „Gehen sie doch in die Kinderabteilung“, heißt es beim Bekleidungskauf schon mal. Kinder starrten sie oft an, Eltern wüssten kaum damit umzugehen und zögen manche der Kleinsten dann einfach von „der Kleinen“ weg – anstatt darüber aufzuklären. „Das tut schon weh.“

Aktive Aufklärung

Früher habe sie dazu geschwiegen, sich eher zurückgezogen. Heute klärt sie auch selbst auf, engagiert sich in einem bundesweit agierenden Verein und wendet sich an die Öffentlichkeit, wie sie derzeit einen Vortrag für Mitarbeiter und Auszubildende in der Lebenshilfe Braunschweig plane. Überhaupt, unter ihresgleichen zu sein, gebe ihr viel Halt und entschädige für so manche Unannehmlichkeit. „Endlich mal jemandem wirklich auf Augenhöhe zu begegnen“, das sei etwas und ergänzt mit einem Zwinkern: „Stellen Sie sich mal vor, auf welcher Höhe meine Augen sind, wenn ich in einer Schlange stehe.“ Besser nicht und doch, um ansatzweise zu verstehen, was es täglich durchzumachen gilt.

Zwei Mal im Jahr träfen sich die Vereinsmitglieder, um sich über Alltagsthemen auszutauschen. „Das ist fast wie ein Familientreffen“, berichtet sie, und sie sei, ganz ohne Ironie, für die Kinderbetreuung zuständig.

Akzeptanz als Mitarbeiterin

Die Stütze im Alltag ist ihr Job am Empfang der Werkstatt der Lebenshilfe Braunschweig in der Heinz-Scheer-Straße. Hier kommen Melanie Okon ihre EDV-Kenntnisse zugute. Viele Arbeiten dürfe sie da erledigen, die Fachkräfte an sie weitergäben. Doch damit soll noch nicht das Ende der Laufbahn erreicht sein. Ein Außenarbeitsplatz, am besten bei der Deutschen Bahn oder der Stadt Braunschweig, das sei ihr großer Traum. Und mit deren Verwirklichung hat sie so ihre Erfahrungen: Niemand habe sich in der Schule vorstellen können, dass sie jemals werde lesen können. Dank des Einsatzes ihrer Mutter, einer engagierten Lehrerin an der Oswald-Berkhan-Schule und mit eisernem Willen sei es dann doch gelungen. Heute arbeitet sie in der Freizeit sogar in einer Bibliothek an der Buchausgabe. Die Leute, ob groß oder klein, hätten sich an sie gewöhnt und akzeptierten sie als Mitarbeiterin voll und ganz.

Aufschlag und Sieg

Bis man das von der gesamten Gesellschaft sagen könne, da macht sie sich nichts vor, sei noch ein langer Weg und denkt dabei an ihr liebstes Hobby: Badminton. „Da muss ich auch viel mehr laufen als die anderen.“ Und obwohl die Wege auf dem Court für sie länger seien und sie kaum passende Schläger finde, klappen täte es am Ende doch.
 

  • HINTERGRUND AKTUELL

Die globale Kampagne Purple Light Up (engl. für "Lila Aufleuchten") setzt an diesem Tag rund um die Welt ein sichtbares Zeichen für Menschen mit Beeinträchtigung. Symbolisch wird die Farbe „Purple“ (Lila/Violett) in unterschiedlichen Aktionen für mehr selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe verwendet.

Der 1992 von den Vereinten Nationen ausgerufene Internationale Tag der Menschen mit Behinderung soll jedes Jahr am 3. Dezember weltweit das Bewusstsein für ihre Belange schärfen und den Einsatz für ihre Würde und Rechte fördern. In Deutschland setzen sich für diese etwa acht Millionen Menschen verschiedene Institutionen und Verbände seit Jahren für mehr Teilhabe und Inklusion ein wie etwa die Lebenshilfe als Dachverband und vor Ort, der Deutsche Behindertenrat, Aktion Mensch, Sozialhelden, der Sozialverband VdK oder der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.

Im Grundgesetz ist seit 1994 festgelegt, dass "niemand […] wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" darf. Mit der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) können sich Menschen mit Behinderungen auf ein umfangreiches verbindliches Regelwerk berufen. Deutschland hat sich bereits vor zehn Jahren zur Umsetzung der Konvention verpflichtet.

Text: Frank Rogalski | Elke Franzen | Bundeszentrale für politische Bildung
Fotos: Frank Rogalski