Lebenshilfe Braunschweig
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02.04.2024

Autismus ist unsichtbar. Autistische Menschen sind es nicht.

Der Welt-Autismus-Tag am 2. April will auf die Bedürfnisse und Lebenssituationen von Autist:innen aufmerksam  machen. Er wurde am 2. April 2007 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen gegründet und findet in diesem Jahr europaweit unter dem Motto „Not Invisible“, „Nicht unsichtbar“ statt.

  • Mehr dazu gibt es hier in einem Gastbeitrag von Julia Hotz. Sie ist Mutter eines autistischen Kindes und Fachkraft in der Autismusambulanz der Lebenshilfe Braunschweig.

Autismus ist unsichtbar.

Autistische Menschen sind es nicht.

An einem vierten April am frühen Nachmittag war es offiziell: Wir haben ein autistisches Kind.

Seitdem feiern wir jedes Jahr am 4. April. Weil die andere Wahrnehmung meines Kindes damit offiziell ist. Es muss sich keine Gedanken darüber machen, ob es zu dumm ist, wenn es etwas nicht versteht. Oder ob es zu laut oder zu leise ist, wenn es nicht verstanden wird. Ob es zu faul ist, weil es so viele Pausen braucht. Es muss die Gründe für seine Wahrnehmung nicht in einer pathologischen Ursache finden, es darf sein, was es ist: ein Kind.

Der April ist "Autism Awareness Month" und der 2. April ist Welt-Autismus-Tag. Beides dient dazu, das Bewusstsein für Autismus zu schärfen und die Vielfalt innerhalb des Spektrums wertzuschätzen. Während diese Zeit die Gelegenheit bietet, mehr über Autismus zu erfahren, in Kontakt zu gehen und Vorurteile abzubauen, bleibt die Lebenswirklichkeit für viele Familien mit autistischen Kindern meist von gesellschaftlichen Barrieren und Unsichtbarkeit geprägt.

Für Familien wie unsere ist jeder einzelne Tag eine Herausforderung. Unser Kind ist einzigartig, talentiert und liebenswert – wie alle Kinder. Seine Bedürfnisse, seine Art zu kommunizieren und seine Wahrnehmung der Welt werden jedoch häufig missverstanden oder einfach übergangen. Die Unsichtbarkeit der Behinderung macht es schwierig, die notwendige Unterstützung und die Akzeptanz zu erhalten, die unser Kind braucht, um sich gesund entwickeln und sein Potenzial entfalten zu können.

Ich habe aufgehört, mich zu fragen, warum all die pädagogischen Konzepte, die ich als Sozialarbeiterin kennengelernt habe, bei meinem Kind nicht zum Ziel führen. Lasse ich zu viel durchgehen? Muss ich strenger sein? Bin ich zu nachgiebig? Nein. Ich bin gut genug. Mein Kind hat Bedürfnisse, denen ich intuitiv anders als erlernt begegnet bin und es war ein harter Kampf, das gegenüber pädagogischen Einrichtungen zu vertreten. Oder gegenüber der Kinderärztin, die an meiner Erziehungskompetenz zweifelte, als ich sie bat, mein Kind nicht mehr als nötig anzufassen und bitte vorher anzukündigen, was sie als nächstes tut.

Was an einigen Tagen geschafft wird, ist an anderen ein Ding der Unmöglichkeit. Sätze wie „du bist doch schon groß“, „gestern ging das aber auch“, „stell dich nicht so an“, „das muss es jetzt aber mal lernen“, „wir können nicht immer Rücksicht nehmen“,und „die anderen Kinder wollen das dann auch“ machen deutlich, wie hinderlich mangelndes Verständnis, Vorurteile und kaum vorhandene Ressourcen in unserem Alltag sind. Unangebrachte Blicke, unerwünschte Ratschläge in der Öffentlichkeit bis hin zu Schwierigkeiten in Bildungseinrichtungen und im Berufsleben stellen autistische Menschen und ihre Familien vor zahlreiche Herausforderungen.

Diesen Herausforderungen stelle ich mich nicht mehr nur privat. Ich arbeite in der Autismusambulanz der Lebenshilfe Braunschweig jeden Tag mit Menschen im Spektrum, ihren Familien, ihrem Sozialraum. Dort schauen wir nach den vorhandenen Ressourcen, entwickeln Strategien und schaffen Sichtbarkeit. Ich muss nicht alles nachvollziehen und verstehen können, was andere wahrnehmen und erleben, um aktivieren, begleiten und unterstützen zu können. Es reicht aus, wenn ich den Menschen glaube. Sie und ihre Not sehe, gleichzeitig auch einen Blick für die Ressourcen habe und das ganz klar kommuniziere.

Jedes Kind, jede:r Erwachsene hat einzigartige Fähigkeiten und Talente, die unglaublich bereichernd sein können, wenn der Rahmen dafür geschaffen wird. Dazu tragen meine Kolleginnen, Kollegen und ich durch unsere Tätigkeit jeden Tag ein kleines bisschen bei.

Es ist an der Zeit, die Vielfalt innerhalb des Autismusspektrums anzuerkennen. Statt Unsichtbarkeit und Stigmatisierung verdienen autistische Menschen Sichtbarkeit und Wertschätzung für ihre Weise, die Welt zu sehen und zu leben.

Wir wissen aus eigener Erfahrung, wie wichtig es ist, unsere Stimmen zu erheben und für die Rechte und Bedürfnisse autistischer Menschen einzutreten. Anstatt Unterschiede zu fürchten, sollten wir sie feiern und als das sehen, was sie sind – eine Bereicherung.

Deswegen laden wir dazu ein, Vorurteile abzubauen, Barrieren zu überwinden und eine Welt zu schaffen, in der alle Menschen in allen Bereichen des Lebens vollständig akzeptiert und unterstützt werden. Lasst uns gemeinsam für eine inklusive Gesellschaft kämpfen, in der jede:r unabhängig von individuellen Herausforderungen die Möglichkeit hat, selbstbestimmt zu leben und glücklich zu sein.

Ich sehe dich. Und ich glaube dir.


  • Hier gibt es mehr zur Autismusambulanz der Lebenshilfe Braunschweig.
  • Vormerken: Für den 8. Juni ist ein Vortrag von Gee Vero bei der Lebenshilfe Braunschweig geplant.